Nordwärts wandern

Von Michael (Text) und Franz (Fotografie) – Wir wetten hier mal eine Flasche Franzen-Riesling darauf, dass eure spontane Reaktion auf das nachfolgende Zitat mit ziemlicher Sicherheit „Ach nee!” lauten wird. Also jetzt: „Der Dortmunder Norden birgt bislang ungenutzte, vor allem aber ungeahnte Entwicklungspotentiale!” Na? Noch ne Pulle auf die Urheber des Zitats setzen wir aber nicht, weil…

…man das schlechte Gewissen kommunalpolitischer Versäumnisträger ja quasi riechen kann (könnt ihr hier und hier nachlesen; für Nicht-Dortmunder: die „Nordstadt” und die nördlichen Stadtteile sind entwicklungs- und sozialpolitische Kummerkinder). Zufällig sind wir vor der offiziellen Eröffnung des Projektes „Dortmund blickt Nordwärts” am 9. Mai von Scharnhorst über Lanstrop nach Grevel gewandert, voll zu Fuß, mit persönlicher CO2-Bilanz nahe Null. Weil wir doch etwas gutzumachen hatten nach unserer letzten Dieseltour zur Mosel, sind wir trotz Streiks mit Bahn (danke, private Nordwestbahn, auch für das nette Mädel und die Kekse, die es an die Gäste verteilte) angereist.

„Die Freeclimber unter den Weichtieren”

Scharnhorst sieht so aus, wie sich der Name liest: konservativ-bürgerlich durch und durch (Anm.: an der Strecke, die wir gewählt haben). Parkstreifen, schmale Vorgartenteppiche, Ein- bis Zweifamilienhäuser, Grünzüge, mal Plattenbauten, viele gepflegt, Gitterzäune oder blickdichte Baumarktbrettersegmente schützen das kleine Refugium hinterm Haus. Ein Kuckuck gluckert aus dem Naturschutzgebiet Alte Körne, ein Grünspecht keckert und am Rand des Mikrowegenetzes des Stadtteils finden wir einen klassischen Fall von Hausbesetzern. Schnirkelschnecken klettern auf der Borke einer Esche bis in die Krone des Baumes. Trockenes Zitat des Hallenkletterers Franz: „Sind wohl die Freeclimber unter den Weichtieren.” Sie kommen bis zu 20 Meter hoch und fressen auf ihrem Weg Algen und Moose. Bei dem großen Grünauslauf hinterm Block könne man hier gut wohnen, meint Franz.

Voraus das Lanstroper Ei

Informative Naturpfade verlaufen kreuz und quer durch das Gebiet der Alten Körne, in dem ein junger Großvater mit seinem Enkel auf Naturerkundung aus ist. Gerade hat der Knirps eine Weinbergschnecke entdeckt. „Sie sind sogar essbar”, erwähnen wir. Große, ungläubige Kinderaugen schauen uns an. „Stimmt”, wendet der pädagogisch erfahrene Großvater ein, „aber der Opa mag sie nicht.” Erleichtert setzt der Junge die Schnecke wieder an den Wegesrand.

„Manchmal fliegen 30 bis 40 Reiher auf”

Wenig später erscheint voraus das Lanstroper Ei. Wir schlenkern erst noch ums Haus Kurl, sehr heruntergekommen, nur noch eine Ruine, an der Halbwüchsige ihre Spraydosen entleeren wie eine Notdurft. Aber, aber: Nur einen Steinwurf weit entfernt entdecken wir ein Reiher-Dorado mitten im Ort. Mehrere Nester in den Kiefern auf der früheren Gräftenbrache von Haus Kurl sind mit Jungvögeln besetzt und ein Anwohner meint: „Manchmal fliegen 30 bis 40 Vögel auf.” (Zahl minus Aufschneiderbonus ergibt richtiges Ergebnis). Futter gibt es offenbar genug am nahen Lanstroper See.

Dortmund muss eine sorgsame Stadt sein

Was uns dort auffiel und auch zuvor an Haus Wenge: Die Informationstafeln sind überholt, verblichen, vergilbt. Entwicklungspotenzial? Aber sicher. Wir sinnieren über städtische Schmuddelkinder wie Scharnhorst-Ost, das als Stadtviertel mit „besonderem Erneuerungsbedarf” einen schlechten Leumund hat/hatte und Oberbürgermeister, die einst sagten: „Das neue Dortmund ist das schnelle Dortmund” (war Dr. Gerhard Langemeyer, braucht ihr nicht zu goggeln). Das schnelle Dortmund stärkte die Starken, die Sprinter, die sich noch weiter vom Feld absetzten, doch die breite Masse ist nicht schnell, sondern langsam, meinetwegen auch beschleunigungsresistent, was physikalisch normal ist, nur noch nicht in der Sozialpolitik, folglich haben sich soziale Unterschiede im Stadtgefüge verschärft. Als Vorstadtstreuner fordern wir mal: Das neue Dortmund muss eine sorgsame Stadt sein, sie muss alle Dortmunder weiterbringen (und nur für uns: Sie stoppt auch den Trend zu unkrautfreien, vollverkieselten, vollversteinerten Vorgärten).

„Rust never sleeps”, auch am Ei nicht

Das Lanstroper Ei, um das wir die ganze Zeit wie ein neugieriges Ufo um die Erde kreisten, ist ein weiterer Fall. „Rust never sleeps” (Erkenntnis nicht nur des kanadischen Rockers Neil Young), und ein paar Eimer Farbe für die untere Ei-Hälfte vor ein paar Jahren halfen da wenig. Der ehemalige Wasserspeicher rostet in exponierter Nordostlage zur City vor sich hin, ist weiträumig abgezäunt, „Lebensgefahr”, ja klar. Von diesem Standort aus gäbe er eine prima Aussichtsplattform über die gesamte nähere Industriekulturlandschaft her. Wo bleiben die schnellen Dortmunder, die Hightech-Firmen der Stadt, ihre Stahlbau-Expertise zur Restaurierung, wer hat Mut zu einem kühnen Ü-Ei-Entwurf, einer besteigbaren, durchsichtigen Plexiglas-Aussichtsplattform etwa, die den Denkmal-Charakter des Speichers respektiert?

Als Antwort rauscht nur der Wind.
Wir denken: Das Denken müsste schneller sein.

Franz_Michael_klein

PS: Wir moppern gerne, aber unsere Tour war grün, grün, grün, stadtlärmfrei sowie pflanzen- und vogelartenreich. Mit 13,7 Kilometern sehr zur Nachwanderung empfohlen. Guckst Du Bilder hier:

 

 

Die Strecke wurde aufgezeichnet mit der App outdooractive:

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2 Kommentare zu “Nordwärts wandern

  1. Na, da seid ihr ja nur wenige Meter von unserer Haustür vorbeimarschiert! :-) Ja, mit dem Ei gab es ja „große“ Pläne, aber die sind wohl verschütt gegangen…

    • Hallo Christian,

      wollte Dir eigentlich schon früher antworten: Wenn ihr uns mit Kaffee und Kuchen lockt (mich auch mit einem kalten Weißbier), kommen wir auch rein bei euch…
      Grüße Michael

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