Tagträumen unter Linden

Ein Mann, ein Projekt: zu Fuß vom Schwarzwald durch die Schweiz zum Lago Maggiore. Hier Geralds Wandertagebuch, Tag 3: von Willisau nach Flühli.

Beim Verlassen von Willisau muss man nochmal kräftig schlucken: Metallische Schläge aus einem Hochregallagerbau erfüllen das Tal. Der Verstand sagt: die Schweiz ist nicht Heidiland. Und trotzdem, nur zwei Minuten später der urige Bauernhof mit Bauerngarten davor, die Kuhglocken übertönen bereits den Baustellen-Hammer.
Heute wandern viele Weggefährten im Geiste mit. Bei den Kuhglocken fällt mir mein ehemaliger Deutschlehrer am Gymnasium Gevelsberg ein. „Wenn es stressig wird, denke ich an den beruhigenden Klang der Kuhglocken.“ Das sagte Wolfram Becher übrigens bei einer Bergtour im Allgäu, wohin er uns bei einer Stufenfahrt als 16-Jährige mitnahm, wo bei mir der Keim der Liebe zu den Bergen gelegt wurde. Becher machte mit uns den Mindelheimer Klettersteig und dann noch den Heilbronner Höhenweg mit 25 cm Neuschnee (!) nach einem nächtlichen Wetterumschwung – was für eine Courage!
Der Wanderstock steht noch an der Linde
Es folgt ein Wegstück mit besonders schönen, etwa 200 Jahre alten Linden und ich knipse mein drittes Foto. Erst als ein Hund auf einem Hof einen Kilometer weiter frei herumläuft, fällt mir auf, dass ich meinen Wanderstock an der Linde hab stehen lassen. Also  zurück! Das hat man vom Tagträumen. Das nächste Dorf heißt Geiss und hat einen Brunnen, den der Heilige Jakob ziert. Da muss ich an Barbara aus Verbania denken.  Sie will mir in drei Tagen,  wenn ich die Grenze zu Italien passiere, mit Massimo entgegen laufen.

Herrlicher Weg durch die Emme-Schlucht

Inzwischen regnet es richtig,  aber komischerweise macht es mir diesmal nichts aus. Als nächstes muss ich an RN-Fotograf Dieter Menne  aus Dortmund denken. Er verfolgt meine Tour virtuell und schrieb gestern, dass er sich eine Karte holen musste, weil ihm die ganzen Orte auf meinem Weg nichts sagen. Ja, das ist genau einer der Beweggründe, warum man so weit wandert: Man lernt ganz neue Ecken kennen.
Es ist früher Mittag, als ich Wolhusen, das letzte kleinstädtische Zentrum vor dem Emmental, erreiche. Gleich hinter Wolhusen beginnt ein Premiumwanderweg am Ufer der Kleinen Emme entlang. Ups, so klein ist die Emme nicht, vielmehr ein tosender reißender Gebirgsfluss, in dem immer wieder mitgerissene Felsbrocken wie Donner grollen. Herrlicher Weg durch die Emme-Schlucht. Jetzt muss ich an meinen älteren Sohn Basti denken, der in vier Wochen 30 wird. Statt unserer geplanten 4000er-Bergtour muss er für eine Knie-OP ins Krankenhaus, der Pechvogel.
Die Waldemme brodelt bedrohlich
Es regnet wieder oder noch, als ich das Biosphärenreservat Entlebuch betrete. Und jetzt denke ich an Hilde, meine bessere Hälfte. Mit Zweckoptimismus würde sie jetzt den running gag bemühen: „Im Westen wird’s schon heller.“ Aber nicht hier. Die Wattewolken kleben förmlich an den Hängen. In Schüpfheim weitet sich das Tal, ich wende mich nach links in ein Seitental und gewinne über nasse Almwiesen an Höhe. Im munteren Auf und Ab folge ich der Waldemme, die sich hier in eine Klamm quetscht und bedrohlich brodelt. Zuletzt geht es meinem Tagesziel entgegen, Flühli. Nochmal auf einem Premiumwanderweg, der 5 cm unter Wasser steht, nein fließt.
Bei der freundlichen Bäckerin in Flühli erkundige ich mich nach einer Unterkunft. Sie telefoniert zwei Vermieter an, aber Fehlanzeige. „Sie können auch bei mir bleiben, oben unterm Dach.“ Ja, wer könnte da nach bald 9 Stunden im Regen nein sagen?
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