Greifbare Heimatliebe

Von Gerald (Text + Fotos) – „Wir sind Nomaden“, sagt André Melly, der mittlerweile 81-jährige Heimatkundler aus dem Val Anniviers. Das Walliser Bergtal gilt selbst unter Schweizern noch als Geheimtipp, obwohl die beiden alpinen Wahrzeichen Matterhorn und Weißhorn am Talschluss grüßen.

Die Sonne brennt wie so oft von einem wolkenlosen Himmel auf den Dorfplatz des Walliser Bergweilers Vissoie, als André Melly die Tür zu seinem Allerheiligsten öffnet. Dunkle Kühle empfängt den Besucher in dem grob gehauenen Keller, der die drei Schätze eines traditionsbewussten Bewohners im Val Anniviers birgt: „Gletscherwein“, Kuhglocken siegreicher „Königinnen der Alp“ und vor allem den „Käse der Toten“ – jeder Schatz für sich eine mystische Reliquie, die die Identität dieser stets umherziehenden Bergbewohner markiert. Doch die Augen müssen sich erst an die Finsternis gewöhnen.

„Das ganze Jahr auf dem Weg”

„Anniviers“, erläutert der kernige 81-Jährige mit dem wachen Blick, „Anniviers bedeutet: Das ganze Jahr auf dem Weg.“ Mit Sack und Pack zogen die Älpler zu Jahresbeginn zunächst hinunter ins Rhonetal, um sich um ihre Weinberge zu kümmern. „Jedes Bergdorf hatte sein eigenes Viertel in Sierre“, erklärt André Melly, wo sich erst im Laufe der Zeit die Stadt im Rhonetal entwickelte.eringerkuh

Ein zweites Mal zogen die Walliser zur Traubenlese ins Tal und brachten den edlen Rebensaft mit hinauf in ihr Dorf, um ihn auf einzigartige Weise im Angesicht des ewigen Schnees zu „Gletscherwein“ zu keltern. Melly geht zu einem 200 Jahre alten Weinfass aus pechschwarzem Lärchenholz und füllt ein Gläschen „Wi“ ab und versichert, dass das Fass immer wieder aufgefüllt wird, aber ganz sicher noch ein paar Tropfen von der allerersten Befüllung vorhanden sind. Ein Gruß also aus alter Zeit der Urahnen. Und es versteht sich, dass André Melly diese Tradition hochhält. Das ist kein billiger Marketing-Gag; das ist ein Eckpfeiler seines Lebens. Nur die engste Familie und sehr gute Freunde werden in den verschwiegenen Keller eingeladen. Touristen haben hingegen einmal pro Woche im Skiort Grimentz die Gelegenheit, den Gletscherwein zu probieren, der etwas an einen Sherry aus einer spanischen Bodega erinnert.

Der „Käse der Toten“ – ein Heiligtum

Doch der kleine Keller in Vissoie birgt noch mehr Mysterien: Den „Käse der Toten“, wie der Möbelmacher ausführt: „Wir haben keine Angst vor dem Heute. Aber vor dem Morgen.“ Eine Sorge der meist wenig begüterten Bergler: Dass es beim Begräbnis keinen Leichenschmaus gibt. Deshalbsorgen sie schon zu Lebzeiten vor.

Das Val Anniviers und das Val d’Herens sind zwei Seitentäler der Rhone im französischsprachigen Teil der Schweiz. Anreise per Auto oder Bahn aus Deutschland über Basel, Bern, Lötschberg, Sierre , bzw. Sion.

Beide Täler haben sich dem sanften und nachhaltigen Tourismus verschrieben. Besucher erleben unverfälschten Naturgenuss und intakte, jahrhundertealte Dörfer mit sonnengebräunten Chalets aus Lärchenholz.

Übernachtungen auf den Almen ab 50 Euro pro Person mit Frühstück. Hotel Weißhorn 140 SFR inkl. Halbpension. Info: www.MySwitzerland.com ; www.wallis.ch ; www.sierre-anniviers.ch; www.valdherens.ch. Kostenlose Hotline: 080010020030.

André Melly greift ins Holzregal und zieht einen runden Laib Käse hervor, auf dem die Jahreszahl 1975 aufgeprägt ist. „Das ist der Käse für meinen Tod“, sagt er eher erleichtert als bedrückt und raspelt mit dem Hobel ein paar dünne Scheiben von einem Käse aus dem Jahr 1979 zum Probieren ab. Die Späne erinnern eher an das sonnengebräunte Lärchenholz im Wallis – und schmecken auch nicht viel anders. Deshalb gibt es bei jedem Begräbnis auch „jungen“ Käse, der zwei Jahre gereift ist. Sowohl für seine Frau, für seine Kinder und selbst für die Enkelkinder hat André Melly schon den „Käse der Toten“ bereitgelegt. Kultur, Heimatliebe und auch Stolz werden plötzlich greifbar.

Im Hochsommer weiter himmelwärts

Die Milch für den ganz besonderen Käse darf natürlich nur von der besten Kuh kommen. Und da ist das dritte Heiligtum der Menschen aus dem Val Anniviers: die Kühe der Eringer Rasse, kleine, gedrungene, aber kräftige und muskulöse Bergrinder, die zwar nicht so viel Milch wie ihre hochbeinigen Artgenossinnen geben, dafür aber im Sommer bis in die Gipfellagen der Hochalmen ziehen können.

Eringerkühe streiten um die Rangfolge

Und wieder ziehen  die Bergler um, dem Rhythmus des Jahres folgend. Erst im Frühjahr auf die Maiensässe, wo sie ihr drittes Zuhause in bescheidenen Almhütten eingerichtet haben, und im Hochsommer noch weiter himmelwärts. Dabei streiten die Eringerkühe um die Rangfolge in der Herde, ein Kampf, bei dem der Staub nur so aufwirbelt und die Kontrahentin mit aller Kraft den Hang hinuntergedrückt wird. Ein Kampf, bei dem der Mensch nicht eingreift, aber bei Wettkämpfen in Scharen zuschaut. Die stärkste Kuh wird als „Königin der Alp“ gefeiert und bringt auch ihrem Besitzer Ruhm und Ehre. Noch heute ist der Name der siegreichen Kuh Moiry von 1975 auf dem „Käse der Toten“ von André Melly verewigt.

planetenwegImmer öfter öffnen die Almbauern ihre Hütten auch für Touristen, die auf wenig anstrengenden Saumpfaden zwischen 2000 und 2200 Höhenmetern an der Baumgrenze von einer Alp zur nächsten laufen können, sei es im Val Anniviers oder auch im benachbarten Val d‘ Herens. Man muss nur höflich fragen und darf bestimmt in den Kupferkessel von Serge Pannatier auf der Alpage de la Louère oder in das Reifelager des Raclettekäses von Lise Es-Borrat auf der Alpage de Lovegno schauen. Bevor man die Produkte zu einem leckeren Pinot Noir aus dem Rhonetal vor untergehender Sonne probiert.

90 Minuten bis zum Neptun

Das Val Anniviers lockt oberhalb von St. Luc zudem mit dem traditionsreichen Berghotel „Weißhorn“ aus dem Jahr 1845 auf über 2300 Metern Höhe in einzigartiger Panoramalage, erreichbar über den „Planetenweg“,  bei dem die Distanzen unseres Sonnensystems mit jedem Schritt erlebbar werden. Bei jedem Schritt auf der Erde schafft man eine Million
Meilen im Sonnensystem und ist dabei dreimal schneller als das Licht. Und dennoch ist es bis zum Neptun ein eineinhalb stündiger Weg!

Unweit dieses fernen Gestirns befindet sich ein Beobachtungsposten für Jäger und Wildfreunde. In der Morgendämmerung lassen sich oft 30 Hirsche neben Gämsen und Rehen beobachten. 600 Hirsche leben alleine im Val Anniviers, wo sich der Rhythmus des Lebens seit Jahrhunderten in Tradition seinen Weg gebahnt hat.

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