Kein Viertel wie alle

Von Michael (Text) und Franz (Fotografie) – Ist das noch Wandern, oberflächliches Sightseeing oder schon, bitterböse: Elendstourismus, was wir da gemacht haben? Man kann uns ein kleines bisschen von allem unterstellen, denn wer streift schon freiwillig durch die Dortmunder Nordstadt? Natürlich wir, dieSchlenderer, das Portal für unvoreingenommenes Wandern.

Außerhalb der Stadtgrenzen – und auch innerhalb – steht die Nordstadt für ein großes Missverständnis, als Synonym für Drogensumpf, Straßenprostitution, Kriminalität und überfüllte Problemhäuser. Das ist ausgemachter Quatsch, weil es die Nordstadt nicht gibt – ohne damit die erwähnten Probleme zu verleugnen. Am besten, man schaut sie sich mit eigenen Augen an.

„Die Bosse standen oben auf den Stufen”

An der Endhaltestelle Westfalenhütte klettern Franz und ich aus der U44. Hoesch war mal ein ganz großer Name für Stahl, heute kümmern sich die verbliebenen Restfirmen unter dem Dach von „ThyssenKrupp Steel Europe” (in Anführung, weil: wir würden es so falsch nicht schreiben) unter anderem um Forschung und Entwicklung, Magnesium-Flachprodukte und es gibt einen „Human Resources Service”. Aus Streikzeiten Franz kennt rund um das Tor der Westfalenhütte beinahe jeden Quadratzentimeter. „Dort oben auf den Stufen haben die Bosse gestanden und denen da unten die Welt erklärt”, sagt er. Der einstige Arbeiterspeisesaal heißt heute Stern im Norden und ist ein Jugendkulturzentrum. Vor dem früheren Konzernsitz liegen mächtige Eisenerzbrocken aus aller Welt herum, auch, Überraschung!, ein Dolomitklotz aus Grevenbrück. Das kohlensaure Magnesium wurde zum Ausmauern der Thomas-Birnen und als Zuschlagsstoff bei der Schmelze genutzt. Nee, wofür das Sauerland nich alles gut ist. Das Hoesch-Museum hat freitags zu.

Alle haben schon bessere Zeiten gesehen

Wir drehen eine Runde im Hoeschpark, dem früheren Ertüchtigungs- und Erholungsgelände nahe der Westfalenhütte. Es gibt ein Baseballfeld mit Schlagmal, Werferhügel, zwei dugouts für die Mannschaften und einem bullpen zum Aufwärmen, rundherum ragen verwitterte Betonreste einer alten Radrennbahn heraus. Der Fußballplatz ist mit einer Tartanbahn eingefasst und hat, wie das ganze Gelände, schon bessere Zeiten gesehen.

Im herbstlichen Park stoßen wir auf einen Weisheitspfad. Kinder der Oesterholzschule haben kleine silberne Schilder mit Sprüchen auf Bänken hinterlassen. „Behandele die Menschen so, wie Du selbst behandelt werden möchtest” steht auf einem in deutscher und albanischer Sprache, auf dem anderen in Deutsch und Türkisch: „In Frieden leben erfordert nicht große Worte, sondern viele kleine Schritte”.

Großstädtisches Zusammenleben auf engem Raum

Kleine Schritte gibt es aber noch zu wenig, zumindest solche vom nachfolgenden Kaliber. „Straße der verführerischen Erlebnisse” heißt es auf einem rotumrandeten weißen Straßenschild vor dem Hoeschpark, eine Initiative von Borsig11, das einige Straßen der Nordstadt kurzerhand umgetauft hat. Borsig11 ist ein Verein für multikulturelle Bürgerschaft und ein „Labor”, das die „Machbarschaft” mit klugen Ideen vorantreiben und Möglichkeiten sichtbar machen will. Genug zu tun gibt es. Verwahrloste Hauseingänge, verlassene Häuser mit geschlossenen Rollladen und abweisende Häuser mit tiefen Wunden an Mauerwerk und Fenstern und kettenverhangenen Türen, die man wohl in die Rubrik „Problemhäuser” einordnen muss. Aber: Sie machen nicht die Mehrheit aus, sie prägen nicht den Gesamteindruck des Quartiers; wohl aber seinen Ruf.

Gebackene Entenkeulen in Cointreaujus

An der Haltestelle Borsigplatz kann man besichtigen, was Borsig11 möchte: großstädtisches Zusammenleben auf engem Raum. Hier sind alle Erdteile und alle Hautfarben vertreten, Asien, Schwarzafrika, der Balkan, Osteuropa, deutsches Bürgertum, offene Gesichter allenthalben, die auf die Straßenbahn warten. Geht doch, möchte man meinen.

Die Mallinckrodt, kurz vor dem Nordmarkt. Deutsche Geschäfte tragen auch türkische Namen (oder ist es umgekehrt?), Männer mit Kippen im Mund oder Kaffeebecher in der Hand lungern am Straßenrand. Der Arbeiterstrich, auf dem sich vorwiegend osteuropäische Auswanderer für ein paar Stunden, einen Tag Arbeit anbieten, um etwas zu bekommen, was die Gutmenschen immerfort „Teilhabe” nennen. Es ist ein Kampf gegen das Leben, um ihm ein Gran Annehmlichkeit abzuringen. Die Polizei ist stets mit dabei.

Billig, weil die Menschen mit wenig Geld auskommen müssen

Wir springen ins Karussell des Nordmarkts. Sprachen aus aller Welt, aber in deiner Stadt, hier verstehst Du nix. Das macht nichts, denn mit einem Lächeln kommt man immer weiter in dem Gedränge. Schweinsköpfe liegen in der Auslage einer polnischen Metzgerei, die heißen Maroni ein paar Stände weiter kommen aus China, Haushaltswaren, viele Klamotten, alles ist billig, billig, billig, auch, weil die Menschen hier mit wenig Geld auskommen müssen.

Nur ein paar Schritte hinterm Nordmarkt liegt Janka’s im Langen August, ein Restaurant mit einem Ruf über Dortmunds Stadtgrenzen hinaus. Auszug aus der wöchentlichen Speisekarte gefällig? – Gebackene Entenkeulen in feinem Cointreaujus und Palmkohl a la creme, selbstgemachte Walnuss-Tagliatelle, in Birnen und Speck geschmortes Kassler auf Steckrübenstock. Hier kannst Du, möchte man rufen, deine Vorurteile über die Nordstadt mit Genuss runterschlucken!

„Wir: Echt Nordstadt” – Geht gucken!

Brauerei-Museum, Fredenbaum, grüner Lungenflügel der Nordstadt, Naturkundemuseum, Mensch, es gäbe noch so viel zu berichten. Nur noch ein kurzer Blick aufs Big Tipi und sein Versuchsgelände drumherum für Heranwachsende: Es sieht schangelig aus, Holzhütten und Verschläge stehen auf dem Areal, zwei Jugendliche verbrennen für diesen Zweck herumliegende Holzpaletten, feuchtdichter Rauch steigt auf. Uniforme Spielplätze für Kinder am Phoenixsee sehen anders aus. Vielleicht – wir wissen es nicht besser – ist es aber genau das, was Heranwachsende brauchen: formen, bauen, gestalten, auch wieder zerstören, Zeit und Raum, sich zu erproben. Man kann das auch als Metapher für die Nordstadt sehen. Hier dreht sich was, hier herrscht große soziale Dynamik, hier entsteht etwas. Möglicherweise sogar etwas Besseres.

PS: Die Menschen der Nordstadt kann man auch „besichtigen“. Unsere früheren Zeitungskollegen Alex, Claudia, Dietmar, Klaus und Irmine haben eine wundervolles Projekt auf die Beine gestellt. „Wir: Echt Nordstadt” zeigt die Bewohner in ihrer Vielfalt, Lebendigkeit und Liebenswürdigkeit. Geht gucken auf der Kulturinsel am Phoenixsee. Und seht euch Franz‘ Fotos an.

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3 Kommentare zu “Kein Viertel wie alle

  1. Liebe Schlenderer,

    ich habe gesehen, dass ihr beim Flanieren durch die Nordstadt auf unsere Straßenschilder gestoßen seid.
    schön, dass jemand drüber stolpert!

    die Schilder stammen aus dem Projekt „Public Residence: Die Chance“, das wir gerade am Borsigplatz umsetzen.
    vielseitig wie ihr seid, könnte es sein, dass euch das nachhaltig interessiert. wollt ihr mehr?

    mit Gruß vom Borsigplatz,
    Guido
    Machbarschaft Borsig11 e.V.

  2. Hallo Franz und Michael,

    danke für einen tollen ungeschminkten Blick auf unseren Norden. Hat mir super Spaß gemacht, ihn zu lesen. Wir haben ja seit dem 1. Nov. ´14 ein neues Webportal echt-nordstadt. Dürfen wir ggf. zu eurem Bericht verlinken?

    LG
    Annette Kritzler

    • Hallo Annette,
      selbstverständlich kannst Du einen Link setzen. Wir freuen uns immer über Besuch und es ist schön zu hören, dass wir den richtigen Ton gefunden haben.
      stay tuned
      Michael

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