Aufs Dach Italiens

Von Gerald (Text + Fotos) – Genau 30 Jahre ist es nun her, dass es mich ins Aostatal zum höchsten ganz in Italien stehenden Berg verschlagen hat. Ob der Gran Paradiso, 4061 m, noch derselbe ist? Klare Antwort: Nein! Das macht das Wiedersehen so spannend.

Er hat mächtig geschwitzt, der Gran Paradiso, in den letzten Jahrzehnten. Einst schlenderte man fast die ganze Strecke vom Rifugio Vittorio Emanuele, 2760 m, auf dem Gletscher bis hinauf zum Gipfelfelsen. Nun ist das Eis rapide abgeschmolzen und der untere Gletscherabschnitt nur noch dünnes blankes Eis. Es wird in wenigen Jahren verschwunden sein. Die neue Route verspricht also ein kombiniertes Alpin-Erlebnis mit Fels und Eis!

In der „Liegebatterie“

Um 4 Uhr ist die Nacht für Brigitte, Johannes, Wolfgang, Manuel und Silvester vorbei. Das erste Kunststück: Wie machen sich sechs Personen in einer „Liegebatterie“ von gerade mal sechs Quadratmetern startklar? 70 Bergsteiger haben in der legendären Alutonne eine zu kurze Nacht verbracht und sind heilfroh, dass sie hinaus in die klare Luft unter ein sternenübersätes Firmament treten können. Es ist zwar bereits September und damit Frühherbst, aber der Morgen ist so mild und windstill, dass wir die warmen Jacken gleich im Rucksack lassen können. Jetzt aber die Stirnlampen an – los geht’s! Ein schlechtes Wegstück wartet gleich hinter der Hütte, wo ein Bergsturz seine Felsen ausgebreitet hat. Steigen über Klötze und das morgens um 5 Uhr…

Eine Karawane aus Seilschaften

Etwas später wird der Gletscherbach überquert, dem man nicht mehr – wie früher – folgt. Stattdessen geht es auf der anderen Bachseite einen 100 Meter hohen Moränenrücken hoch, der Zeugnis davon ablegt, wie gewaltig der Gletscher einst gewesen ist. Dem Moränenkamm folgen wir leicht und jeder sinniert, was dieser heutige Aufstieg wohl bringen wird, bis ein Felsriegel den Weiterweg versperrt. In leichter Kletterei überwinden wir das Hindernis und erklimmen das Felsplateau, als im Osten bereits der Silberstreif den neuen Tag ankündigt. Vor uns sehen wir, wie eine Karawane aus Seilschaften wir Glühwürmchen den Felsenrücken hinauffunkelt, bis in unserem Rücken der erste Sonnenstrahl auf den mächtigen Mont Blanc, 4810 m, in unserem Rücken fällt.

Um uns herum nur noch Eis

An einer weiteren Steilstufe auf knapp 3400 Höhenmetern gibt ein totes Füchschen zwischen dicken Brocken Rätsel auf. Was macht der arme Kerl in dieser weglosen Höhe? Des Rätsels Lösung kommt erst viel später wie eine Eingebung: Ein Adler muss seine Beute hier oben fallen gelassen haben. Keine Zeit zum Nachdenken, denn vor uns verlangt  ein hochalpiner Klettersteig die ganze Konzentration. Zwei Weggefährten waren wohl beim Packen im Tal nicht ganz bei der Sache und haben praktisch ihre gesamte Alpin-Ausrüstung vergessen. Das Team teilt das Material so gut es geht und der erste Karabiner klickt in das glänzende Stahlseil. Über Sprossen und Felsbänder geht es wie auf einem Drachenrücken nach oben, bis endlich überall um uns nur noch Eis ist.

Wie ein gestrandetes Schiff

Jetzt wird es also Zeit für Steigeisen und Pickel. Wir binden uns ins Seil und wissen, dass wir nun Verantwortung für die gesamte Gruppe tragen. Ein leichtsinniger Fehler könnte Konsequenzen für das gesamte sechsköpfige Team haben. Doch der Weg ist leicht und zieht im weiten Bogen hinüber zur alten Aufstiegsspur. Weiter oben zwei harmlose Spalten, ein kurzes Steilstück. Ja, und dann stehen wir schon vor dem Gipfelturm, der rostbraun wie ein gestrandetes Schiff aus dem Eismeer ragt. Eine bunte Schar turnt an den Blöcken herum, um den höchsten Punkt Italiens zu erreichen, dort, wo eine weiße Madonna den seligen Glücksmoment verheißt.

Ciao, Gran Paradiso

Nur kurz müssen wir warten, bis tatsächlich Platz für alle sechs auf einer winzigen ausgesetzten Gipfelkanzel ist, von wo es jäh zu allen Seiten senkrecht abfällt. Also doch ein richtiger Gipfel! Ja, Euphorie! Wir haben es geschafft! Der Abstieg ist nur noch Formsache, nein, ein purer Genuss, weil jetzt noch mehr Gelegenheit ist, den Blick schweifen zu lassen. Vom Dach Europas, dem Mont Blanc, bis zu den Tiefen Italiens, die von Wolkenmeeren verhüllt werden. Also ciao, Gran Paradiso, dann bis in 30 Jahren wieder…

Gerald_80x80

 

 

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht unter "rauf" und "verschlagwortet" mit ".
Direktes Lesezeichen zu diesem Beitrag: permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*
*
Website