Ein Spannungsbogen

Von Michael (Text) und Franz (Fotografie) – Wandern ist auch Gesellschaftsbetrachtung: besonders dann, wenn dieSchlenderer einen Weg einschlagen, der von der Einrichtung für die Erstaufnahme von Asylbewerbern in Dortmund-Hacheney zu den Luxusquartieren am Hörder Phoenix-See führt. Er bringt uns zu Menschen, die mit nichts als dem nackten Leben nach Deutschland kommen und zu jenen, die in ihrem Leben schon sehr weit gekommen sind. Wir geben’s ja zu: Das ist ein ziemlich willkürlich gewählter Spannungsbogen und eine subjektive Beobachtung von Oberflächen.

In das Flüchtlingslager kämen wir sogar rein; das Rollgittertor steht weit offen, ein Junge mit Schulrucksack schlurft langsam hinein. Die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes NRW ist aber zu diesem Zeitpunkt mit mehr als 400 Menschen – wieder einmal – überbelegt und das Verlangen hineinzugehen ist nichts als der Kitzel der Polemik, die wir spüren, wenn wir an den Endpunkt unseres Weges denken.

Vom offenen Tor abgesehen wirkt die Einrichtung wie ein Lager, hohe Zäune halten Menschen davon ab – ja von was? Hinein will wohl niemand, und das erste, das die entwurzelten Menschen in der EAE merken: Das Zusammenleben auf engem Raum ist eine schwierige Angelegenheit. Unterschiedliche Kulturen, Beibehaltung von Traditionen und Gewohnheiten reiben sich, das führt zu Hitze und Streit untereinander und mit den Bewohnern des engen Viertels, das diesen Zuzug aus aller Welt kaum verkraften kann. Morgens kippen Schleuser mit Sprintern ihre menschliche Fracht im Vorfeld der EAE ab, abends karren Taxen bis in die späten Stunden neue Asylbewerber an, die die Plätze jener einnehmen, die nach drei bis fünf Tagen auf Bundesländer, Städte und Gemeinden weiter verteilt wurden.

Andernorts gibt es viel, ganz viel Platz

Schneller Vorlauf: Rombergpark, Sumpfzypressen stehen im Herbstkleid, am See schrammen zwei Eisvögel knapp über die Wasseroberfläche, Schwefelgeruch von faulendem Laub weht herüber, über die Traumstraße (B54) hinüber zu Phoenix West, Keimzelle eines „neuen, schnellen Dortmunds” (Alt-Oberbürgermeister Langemeyer). Mit der MST.factory für Mikro- und Nano-Technologie und dem Zentrum für Produktionstechnologie gibt es zwei Kompentenzzentren, darum herum gibt es viel, ganz viel Platz.

Zwei-Meter-Stahlgitter zur Abgrenzung

Am Viadukt der alten Hörder Bahnlinie, von dem nur die beiden Pfeiler erhalten sind, kommen wir auf einen dummen Gedanken: einen Brückenschlag wagen, verbinden, was noch nicht zusammengehört. Ach was, das ist überholte sozialromantische Träumerei! Wir machen, dass wir über die Halde Schallacker weiterkommen an den See und seine mit herrlichen Stadtvillen bebaute Promenade.

Steile Böschungen, mannshohe, blickdichte Lebensbäume, Eisentüren in Mauern – hier ist das Zwei-Meter-Stahlgitter das Mittel der Distinktion. Menschen sieht man kaum in diesen schönen Häusern. Doch, da sitzt ein Mann hinter einer großen gläsernen Front, er winkt, als wir zu ihm hochschauen. Offenbar soll es ironisch wirken. Man müsste ihm mal beibiegen, dass er im Käfig sitzt.

„Wir wollen die Diskussion über die Nordstadt am See führen”

Denn das ist das ärgerliche Problem der See-Anrainer: Außer der Architektur und Lage ihrer Häuser ist hier nichts exklusiv, nicht einmal der Blick, der See gehört allen. Genau das macht, neben dem ungeheuren Erneuerungsschub, den er im näheren Umfeld auslöste, den See zu einem Dortmunder Erfolgsprojekt, zu einer demokratischen Angelegenheit – sieht man mal an den vielen Einschränkungen („Es ist verboten zu baden, zu…”) oder der Angst vor Gentrifizierung vorbei. Nicht nur an Tagen mit schönem Wetter wird der Phoenix-See zu einer Menschenschleuder, setzt gegenläufig drehend große Massen in Bewegung und kehrt soziale Kontrolle um. Nicht der Besucher steht unter Aufsicht, sondern der Anlieger; nicht dieser lenkt oder induziert gewünschte Verhaltensweisen der Besucher, er muss sich konform verhalten und sich mit einem zeitlichen Verlust seiner Privatsphäre abfinden.

Sehenswerte Ausstellung „Wir: Echt Nordstadt”

Und jetzt drängt auch noch das „Problemviertel” (in Anführung, weil: wir meinen es nicht so) Dortmunds an den See. Auf der Phoenix-Insel ist vom 24. Oktober bis Ende März 2015 die Ausstellung „Wir: Echt Nordstadt” zu sehen. Unsere früheren Zeitungskolleginnen und -kollegen Claudia Behlau, Irmine Skelnik, Alex Völkel, Dietmar Wäsche und Klaus Hartmann aka Nordstadtblogger haben in Rekordzeit von sechs Monaten 100 Gruppen mit 2500 Menschen/Nachbarn in Wort und 106 Bildern porträtiert. Die luftigen, lebensnahen Aufnahmen zeigen etwas, was am See bisweilen fehlt: Authentizität, Glaubwürdigkeit und echtes Leben.

Warum gehen die Ausstellungsmacher mit einem Nordstadt-Thema ausgerechnet an den Phoenix-See? „Weil wir genau hier die Diskussion über die Nordstadt haben wollen”, sagt Martin Gansau, Projektleiter des Quartiermanagements Nordstadt.
PS: Die Ausstellung gibt es auch als Buch: Wir: Echt Nordstadt, 176 Seiten, erhältlich nur für die abgebildeten Personen, aber zur Einsicht ausgelegt an vielen öffentlich zugänglichen Orten.

Franz_Michael_klein

 

 

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2 Kommentare zu “Ein Spannungsbogen

  1. Hallo Michael,
    ganz großes Kompliment, der Artikel ist wirklich richtig toll geschrieben! Eine Freundin von mir wohnt und arbeitet selbst in der Nordstadt und fühlt sich dort recht wohl. Und die Stadt bemüht sich ja auch, dem schlechten Ruf der Nordstadt entgegen zu wirken. Dennoch stimmt es, dass man aufpassen muss nicht in Gentrifikation zu verfallen, nicht, dass sich am Ende keiner mehr leisten kann dort zu wohnen, das soll bestimmt nicht Sinn der Sache sein!
    Viele Grüße aus St. Martin im Passeiertal
    Melanie

    • Hallo Melanie,
      vielen Dank! Ist ja ein Ding, dass man in Südtirol unsere Nordstadt kennt. Die herrliche Ecke, wo du wohnst, ist übrigens auch eines unserer Schlenderer-Reviere: Oberöberst, Schnalshuber, etc.
      Viele Grüße
      Michael

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