Für ein sicheres Leben

Von Michael (Text) und Franz (Fotografie) – Normalerweise erzählen wir euch auf dieser Seite was vom Wandern und den schönen Ecken unseres Landes, in denen wir uns in unserer Freizeit herumtreiben. Harmlos, sowas. Es gibt nämlich Menschen, die müssen ganz andere, schreckliche Wege gehen. Ali ist einer von jenen und schildert uns seine Flucht aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Eine Wanderung, die uns alle angeht.

Um zu erzählen, wie Franz und ich auf Ali gestoßen sind, müssen wir einen großen Schlenker über das Kulturzentrum „Depot”  in der Dortmunder Nordstadt machen. Großformatige Bilder haben wir uns an diesem Tag angesehen, eben die World Press Photos 2015. Es sind in der Hauptsache harte Bilder von harten menschlichen Schicksalen, von ebenso harten Fotografen kommentarlos festgehalten.

Der Tod, in unerträglicher Nähe

Viele Aufnahmen zeigen Krieg und seine Folgen und unendliches Elend, nahezu mühelos 1:1 wiedergegeben, springt einen das Entsetzen aus diesen Fotos ins Gesicht: vom Tode gezeichnete Ebola-Infizierte in Sierra Leone, eine Reportage von Sergei Ponomarew für die New York Times dokumentiert den isralischen Einsatz im Gazastreifen mit mehr als 2000 Toten auf Seiten der Palästinenser, Jérôme Sessini zeigt Menschen auf dem Maidan in Kiew, die von Scharfschützen mit Kopfschüssen gezielt getötet wurden, in unerträglicher Deutlichkeit. „Schlimm, das ist ja ganz in unserer Nähe“, sagt ein junger Journalismus-Student zu seiner Kommilitonin. Soviel zu der Macht von Bildern.

Schicksal der Boatpeople ist Hunderttausendfach

Als ehemaligen Zeitungsmachern drängen sich uns diese Fragen geradezu auf: Hätten wir solche Aufnahmen veröffentlicht und warum sieht man solche erschütternden Dokumente nicht in den Tageszeitungen? Pascal Rest, renommierter Dortmunder Fotojournalist (u.a für Stern und Focus) und Dozent an der TU Dortmund, hat dazu eine mögliche Erklärung: „Viele Macher von deutschen Tageszeitungen trauen sich dazu nicht. Online-Medien haben diese Fotos jedoch publiziert. Man sollte aber erwähnen, dass es genug andere Bilder gibt, die Leid und Schrecken transportieren, ohne Opfer in den Vordergrund zu rücken. Man muss nicht zum Frühstück einen Toten zeigen.”

Und es gibt unter den World Press Photos jenes Bild, das uns zu Ali auf der Dortmunder Katharinentreppe führte: Aus der Vogelperspektive lichtet Massimo Sestini 25 Kilometer vor der libyschen Küste ein kleines Boot ab, überbordend mit Flüchtlingen besetzt, einige von ihnen lächeln hoffnungsvoll nach oben in die Kamera, anderen stehen Angst und Skepsis ins Gesicht geschrieben. Einige von ihnen könnten nun unter uns sein, in Dortmund, im syrischen Flüchtlingscamp gegenüber dem Hauptbahnhof etwa, denn  ihre Schicksale sind hundertausendfach.

„So viele Menschen auf so wenig Raum”

Auch Ali flüchtete mit einem kleinen Boot über das Mittelmeer. Eine kleine Nussschale, vollgestopft mit 40 Menschen, die von der Türkei nach Griechenland wollten. „Es war sehr gefährlich, so viele Menschen auf so wenig Raum”, erzählt der 27-jährige Syrer. Ein Teil seiner Familie blieb in der zum großen Teil zerstörten nordsyrischen Stadt Aleppo zurück, ein Teil wartet in der Türkei auf einen wie auch immer gearteten Weg nach Deutschland. Ali wollte Jura studieren, doch das Schicksal hatte andere Pläne: Das Assad-Regime, bedrängt von fanatischen IS-Mördern, wollte ihn in den Kriegsdienst zwingen.

Die Bürgerkriegsflüchtlinge in Heimat- und Aufnahmeland sind über das Internet gut vernetzt (endlich mal eine sinnvolle Verwendung von facebook ;-)) und tauschen Informationen über Strecken und Schlupflöcher aus. Sie sprechen sich ab und geben Tipps und Telefonnummern weiter, unter denen sie – für viel Geld – Fluchthilfe erwarten können. Der 27-jährige Ali hat 9000 Euro bezahlt und dabei mehrfach sein Leben riskiert. Bei der Überfahrt auf dem kleinen, instabilen Boot nach Athen etwa, von dort aus bei der heimlichen, illegalen Weiterfahrt in einem Container-LKW nach Italien. „Wir waren sechs Menschen in einem Verschlag, lagen eng beieinander, wir bekamen kaum Luft, es war wie in einem Sarg”, übersetzen Mohamed und Yara, die die Flüchtlinge im Dortmunder Protestcamp betreuen.

Schutz vor jungen und alten deutschen Nazis

Es regnet an diesem Tag, Plastikplanen schützen notdürftig die Demonstranten und ihre Habseligkeiten, Matten und Schlafsäcke. Mit selbstgemalten Plakaten informieren sie die Passanten, die von und zum Bahnhof eilen, und fordern eine schnellere Bearbeitung ihrer Asylanträge und eine beschleunigte Familienzusammenführung. Mehrere Mannschaftswagen der Polizei, postiert an strategischen Stellen, bewachen das Camp der Syrer an der Katharinentreppe. Denn, so bitter es klingt, auch in Deutschland müssen die Flüchtlinge bangen und beschützt werden vor den jungen und vor den alten deutschen Nazis. Es gibt aber auch Mitgefühl, Zuspruch und Unterstützung. „Was braucht ihr, kann ich euch helfen?” fragt bereitwillig eine junge Deutsch-Kurdin die Flüchtlinge. Sie bietet spontan Kleidung an, Nahrungsmittel, und sagt: „Ich kann euch gut verstehen – meine Familie will auch aus Syrien flüchten.”

„Wir wollen dich nicht in Italien”

Materielle Hilfe möchten die Demonstranten nicht, lieber die Aussetzung des Dubliner Abkommens für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Wer in Einreiseländern wie Bulgarien, Ungarn oder Italien registriert wurde, kann bei der Einreise nach Deutschland von den Behörden wieder ausgewiesen werden. Vor allem Italien ist aber bei der Aufnahme der Menschen, die die Boote und Schlepper über das Mittelmeer an seine Strände spülen, hoffnungslos überfordert. Es waren 2014 mehr als 218.000, für das aktuelle Jahr wird mit bis zu einer Million Flüchtlingen gerechnet. Ali hat das zu spüren bekommen. In Bari kassierten ihn Polizeibeamte, stießen ihn grob herum und zwangen ihn zur Abgabe seiner Fingerabdrücke, übersetzt Yara. Zu seiner Verwunderung sagten sie anschließend: „Wir wollen dich hier in Italien nicht sehen.” Undesirable person, persona non grata. So landete Ali in Deutschland, einem EU-Land, das ihn laut Dubliner Vereinbarung wieder nach Italien abschieben kann.

„Unsere Familien warten in Syrien auf den Tod”

„Wir haben viele Wünsche, während unsere Familien in Syrien auf den Tod warten”, heißt es auf einem Flugblatt. Wir wollen arbeiten, wir wollen niemandem zur Last fallen, wir wollen uns schnell in euer Land integrieren, schreiben die Bürgerkriegsflüchtlinge. Und was willst Du, Ali? „Ich möchte ein sicheres Leben leben und studieren”, sagt er.

Das ist nicht zu viel gewünscht, finden Franz und ich und fordern von euch Leserinnen und Lesern: Erzählt Alis und die ähnliche Geschichte Tausender anderer syrischer Kriegsflüchtlinge euren Freunden und Bekannten weiter, setzt euch für sie ein, wo ihr könnt, teilt unseren Beitrag in den sozialen Medien, geht der Politik auf den Sack mit der Forderung nach einer menschlichen Regelung und einer anständigen Behandlung von Flüchtlingen.

Das sagt euch: unsere deutsche Geschichte.

Franz_Michael_klein

PS: Mehr dazu bei den Nordstadtbloggern da und da.
PPS: Wanderkategorien, unter denen wir unsere Beiträge üblicherweise posten, greifen bei solchen Geschichten nicht. Angebracht wäre diese: Helfen!

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